Aus "musikpraxis - Erziehung durch Klang und Rhythmus in Kindergarten und Grundschule" Heft 84. Mit freundlicher Genehmigung des Fidula-Verlags Boppard /Rhein: www.fidula.de

Singen mit Kindern - aber wie?
von Werner Rizzi

Die ganze Stimme!

  1. Singen ist nicht gleich Singen
  2. Singen hat Geschichte
  3. Ein Zurück gibt es nicht, Vielfalt schon
  4. Welche Lagen mag die Stimme?
  5. Instrumente sind nicht ‚egal‘
  6. Erklärung wichtiger Begriffe
  7. Literatur

Singen ist nicht gleich Singen

Kinder singen grundsätzlich gern. Wieviel, was und vor allem wie gesungen wird, ist jedoch weitgehend ein Kulturprodukt, das von Vorbildern in Erziehung und sozialem Umfeld abhängig ist. Sicher gibt es mannigfaltige Gründe, die dazu führen, dass viele Kinder heute entweder gar nicht oder wenn, dann auf physiologisch problematische Weise singen. Gegen den pädagogischen Grundsatz, Kindern möglichst alle Gelegenheiten zur Entwicklung ihrer Anlagen zu geben, wird besonders beim Singen mit Kindern in der Vor- und Grundschulzeit verstoßen, wenn es darum geht, die gesamten stimmlichen Möglichkeiten (auch die Höhe) auszuloten und damit zu experimentieren. Das sollte auch in den Grunderziehungszielen wiederzufinden sein. Dass dies nicht geschieht, liegt wahrscheinlich zum großen Teil an der mangelnden Kenntnis der Zusammenhänge. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, Kinder nur auf Dinge am Boden aufmerksam zu machen oder etwa Bewegungen mit den Armen nur nach vorne und oben ausführen zu lassen. Nur beim Singen wird Kindern oft das Benutzen der Kopfstimme nicht gezeigt oder verweigert. Wenn letzteres passiert, haben Erzieher/-innen und Lehrer/-innen diese Erfahrung meist selbst nicht gemacht. Häufig sind sie außerdem auf eine Mode in der stimmlichen Äußerung festgelegt.

In der Lehrer- und Erzieherausbildung fehlt leider eine hinreichende Stimmbildung und Sprecherziehung, wiewohl gerade im Kindergarten und Grundschule in dieser Hinsicht eine starke Prägung der Kinder durch Vorbilder geschieht. Auch ist in der methodischen Literatur für diese Arbeitsfelder wenig Grundlegendes zu diesem wichtigen Thema zu finden.

Singen hat Geschichte

In unserer Singtradition sind Wellenbewegungen und Brüche festzustellen. Die Machthaber des Nationalsozialismus hatten die starke Wirkung des Singens auf Menschen schnell erkannt. Über Gefühle lassen sich - bewusst oder unbewusst - Inhalte transportieren. Das beeinflussende Singen war so stark in das tägliche Leben integriert, dass in der Fachliteratur auch von einer "Singediktatur" gesprochen wird. In den fünfziger Jahren begann eine teilweise heftig geführte Diskussion über das umgangsmäßige Singen. Dabei standen sich Musikpädagogen, die glaubten, man könne an die Singbewegung der zwanziger Jahre wieder anschließen und Kritiker wie Theodor W. Adorno gegenüber. Dieser sah - verkürzt gesagt - das umgangsmäßige Singen aus den oben genannten Gründen als problematisch an. Im Zuge der Bildungsreform in den sechziger und frühen siebziger Jahren trat das Singen in der Schule in den Hintergrund. Auch in Familie und Freizeit wurde aus unterschiedlichen und vielschichtigen Gründen - weniger traditionell gesungen. Zunehmende Reizüberflutung und eine wachsende Vielfalt an Freizeitangeboten waren andere Gründe dafür. Gleichzeitig gab es für viele Kinder immer weniger Lebensraum, in dem sie sich ausgiebig bewegen und (auch laut) akustisch äußern konnten. Ende der sechziger Jahre wurden der 'Folk' und in Deutschland die Liedermacherbewegung populär und bewirkten, dass zunächst unter Jugendlichen und dann mit Kindern wieder mehr gesungen wurde. Da in dieser Musik viele Lieder aus dem erzählenden Sprechgesang zur Gitarre entstanden sind (man denke an Reinhard Mey), liegen diese in der Lage der Sprechstimme entsprechend oft sehr tief. Ähnlich verhält es sich auch mit den leicht singbaren Titeln aus der Popmusik. Wenn etwas höher gesungen wird, dann meistens so hoch, wie es den Singenden mit der Bruststimme gerade noch möglich ist. Wer nun seine möglichen höheren Töne im Bereich der Kopfstimme nie entdeckt hat, für den wird es etwa zwischen h´ und d´´ bereits mühsam.

Ganz fatal für die Entwicklung der Kinderstimme aber ist es, wenn

Auf dem Markt befinden sich viele Tonträger mit pädagogisch gut gemeintem Inhalt, jedoch für die Stimmentwicklung problematischer Stimmlage und Singart. Wie die Erfolge von Rolf Zuckowski und anderen zeigen, kommt dieser Trend beim Publikum gut an, denn inzwischen ist die sogenannte 'ungesungene Generation' die Elterngeneration der jetzt wieder - mehr oder weniger gut - singenden Kinder. Dazu kommt oftmals stilistische Einseitigkeit. Kinder lernen nur durch ein vielfältiges Angebot von gesungener Musik zu unterscheiden, bilden ihren Geschmack und können dann auch nach eigenen Vorlieben auswählen. Die ausschließliche Orientierung an den stromlinienförmigen Erfolgsprodukten der Musikindustrie ist hier genausowenig entwicklungsfördernd wie das Bewahrenwollen unzeitgemäßer Volkslieder. Es gibt hingegen vieles von zeitlos guter Qualität in allen Epochen und Stilen zu entdecken.

Ein Zurück gibt es nicht, Vielfalt schon

Im Vor- und Grundschulbereich hat sich ein Singstil entwickelt, dessen Defizite fast schon ästhetisches Leitbild geworden sind. Kindermusicals sowie szenische Lieder und Songs offenbaren dies in besonderem Maße.

Auf Rhythmus und Text wird genauso Wert gelegt, wie auf die selbstbewusste Darstellung "starker" Kinder. Das ist eine wichtige Errungenschaft des Kindertheaters der siebziger und achtziger Jahre. Der Einsatz der Vollstimme und die genaue Arbeit an Melodie und Klang sind jedoch weit in den Hintergrund getreten. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, ei9ner vergangenen Ästhetik nachzutrauern, sondern mit Kindern so zu singen, dass diese in einer wichtigen Phase ihrer Entwicklung ihre physiologischen Möglichkeiten in der Fülle nutzen und nicht ein Teil (die tiefe Bruststimme) auf Kosten des anderen (der Randstimme) überstrapaziert wird. Auch Singtheater, Musicals und Liedmaterial aus dem Genre der Populären Musik lassen sich dadurch reichhaltiger und farbiger gestalten! Falsches Sprechen und Singen, das bedeutet physiologische Gegebenheiten teilweise nicht in Anspruch zu nehmen (die dann verkümmern) und sie andererseits zu überbeanspruchen, also mit sich selbst unökonomisch umzugehen. Die Zahl der Lehrer/-innen und Erzieher/-innen, die ihren Sprechberuf frühzeitig aufgrund von Stimmproblemen nicht mehr ausüben können, ist enorm gestiegen. Eine gesunde und robuste Stimme ist heute mehr denn je Voraussetzung für erfolgreiche Erziehungsarbeit, weshalb der Stimmhygiene hier ein deutlich höherer Stellenwert zugemessen werden muß.

Welche Lagen mag die Stimme?

Antwort: Alle möglichen. Bereits Säuglinge verfügen über einen größeren Stimmumfang, als früher angenommen wurde. Sie haben zunächst nur noch keine bewusste Kontrolle darüber. Bei Kleinkindern erweitert sich der Stimmumfang bald auf c´ bis f´´ und danach darüber hinaus nach oben bis a´´ und nach unten bis a/g, wobei die Töne unter d´ anteilig selten und vor allem ohne Kraftanstrengung gesungen werden sollen. Eine gute Kernsinglage liegt zwischen d´ und f´´. Der Umfang alleine ist aber nicht das einzige Kriterium für die Liedauswahl. Es kommt auch darauf an, wo sich das Zentrum der Tonart befindet und in welchem Bereich sich die Stimme dabei überwiegend bewegt. So ist "Bruder Jacob" in F-Dur angemessen zu singen (Umfang c´-d´´), da die meisten Töne zwischen f´ und d´´ liegen; nur in der letzten Zeile wird c´ im Sprung erreicht:

"Rhythm and Syncopation" dagegen läge für kleinere Kinder in C-Dur zu tief. Obwohl der tiefste Ton auch hier c´ wäre, so bewegte sich die Melodie dabei überwiegend zwischen c´ und g´. E-Dur wäre in diesem Falle angebrachter:

Grundsätzlich gilt für Kinder wie Pädagogen/innen auch hier der Grundsatz, Singende dort abzuholen, wo sie gerade sind.

Zwei Strategien sollten nebeneinander versucht werden:

Kinder entdecken und nutzen dann zuweilen selbst ihre Kopfstimmfunktion, weil schon der Beginn des Liedes dies erfordert. Dass ungeübt die jeweils obersten Singtöne zunächst ein wenig Mühe machen, sollte zum Weitermachen und zur Gewohnheit führen und nicht dazu, diese Töne zu meiden!

Instrumente sind nicht ‚egal‘

Zur Begleitung des Singens lassen sich viele Gegenstände und Instrumente verwenden. Hier einige Gedanken über Instrumente für das (Vor-)Spielen und Begleiten von Melodien.

Prinzipiell sollte jede/r, der/die mit Kindern singt, den Umgang mit der Stimmgabel beherrschen oder üben. Ob mit oder ohne Stimmgabel, Metallophonstäbe von c´ bis g´´ leisten gute Dienste (am besten ‚Klingendes Stäbe‘ mit Resonanzkästchen, die sowohl nebeneinander als auch einzeln verteilt werden können). Zur Begleitung des Singens eignen sich auch tiefere Klänge. Die Schlägel dürfen für Kinderhände nicht zu lang und schwer sein. Aus dem Kniesitz heraus läßt sich meist gut spielen. Es ist sehr leicht zu sehen, ob das Anschlagen für Kinder einen natürlichen Bewegungsablauf darstellt.

Ansonsten müssen Sitz oder Stand dem Instrument – oder umgekehrt – angepasst werden. Xylophontöne werden wegen ihres kurzen Klangs in den ersten Anfängen des Singens als Melodietöne oft nicht so gut erkannt. Sie werden zudem in der Praxis meist mit zu weichen Schlägeln gespielt. Es ist erwiesen, dass Kinder höhere und obertonreiche Klänge besonders gut übers Ohr aufnehmen können. Das Glockenspiel ist dennoch nicht unproblematisch, das es meist ein bis zwei Oktaven über der Kinderstimme liegt und von kleinen Kindern motorisch oft t nicht genau zu handhaben ist. Die Töne der Sopranflöte klingen eine Oktave höher als die Singtöne (weshalb in Flötennoten eine kleine 8 über dem Violinschlüssel steht), können aber verwendet werden. Bei tieferen Flöten, die eigentlich noch in der Singlage tönen, wird der Klang von Kindern durch seine Farbe oft als tiefer empfunden. Darum ist darauf zu achten, dass Kinder hier nicht in ihren untersten Stimmbereich wechseln. Gleiches gilt für die Gitarre, die eigentlich ein Tenor/Bassinstrument ist. Sie klingt eine Oktave tiefer (weshalb bei Gitarrennoten eine kleine 8 unter dem Violinschlüssel steht). Ein Melodievorspiel auf der Gitarre in der Singlage findet daher nur auf der h- und der oberen e-Saite statt.

Der Ton

aus irgendeinem Lied entspräche also

Auf der Gitarre. In der Praxis werden Lieder mit Gitarrenbegleitungen oft zu tief angestimmt, weil die besser geeignete Tonart "schwer" zu greifen ist. Dieses Argument entfällt bei Verwendung eines Capodasters.

Erklärung wichtiger Begriffe:

Bruststimme: In dieser Funktion schwingt hauptsächlich der innere Stimmbandmuskel, die Randregion außen jedoch kaum bis gar nicht.
Kopfstimme: In dieser Funktion – auch Randstimme genannt – schwingen nur die Ränder der Stimmlippen.
Stimmlippen: Die schwingenden, von Bändern mit Schleimhaut ummantelten Muskeln (daher auch Stimmbänder genannt).
Vollstimme: Hier schwingen die ganzen Stimmlippen einschließlich der Ränder.

Literatur:

Habermann, Günter: Stimme und Sprache, Thieme Stuttgart 1986
Holland-Moritz, Thomas (Hg.): Singen in der Musikschule, Die Musikschule Band VII, Reihe Bausteine B 37, Schott Mainz 1984
Mohr, Andreas: Handbuch der Kinderstimmbildung, Schott Mainz 1997
Wagner, Horst: Das Instrument Stimme in: Spielen mit Musik, Kohlhammer Stuttgart 1992

Aus "musikpraxis - Erziehung durch Klang und Rhythmus in Kindergarten und Grundschule" Heft 84.
Mit freundlicher Genehmigung des Fidula-Verlags Boppard/Rhein: www.fidula.de

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